Italien: "Es lohnt sich, evangelisch zu sein!" Interview mit Paolo Ricca

12.09.2012 - 09:52:00

Prof. Paolo Ricca, emeritierter Professor der Theologischen Fakultät der Waldenser in Rom hielt vor der Synode der Württmenbergischen Synode Angang Juli 2012 einen bemerkenswerten Vortrag über den Schatz des "Evangelischen": "Wir haben nichts anderes anzubieten als Jesus Christus - mit ihm aber bieten wir alles an." Und er betonte: "Wir sind anders. Wir haben ein anderes Selbstverständnis, ein anderes Verhältnis zu Gott und zur Welt." In einem interview im Rahmen der Synode nahm er weiter Stellung:

Wieso eigentlich „evangelisch“? Ist die Abgrenzung zwischen den Konfessionen noch zeitgemäß?

Die Abgrenzung war gestern zeitgemäß. Und sie ist es heute. Aber sie braucht die Ergänzung „ökumenisch“. Der Begriff Abgrenzung beinhaltet den Begriff Grenze. Ich meine, wir brauchen im öffentlichen und religiösen Leben Grenzen, nur müssen die Grenzen offen sein. Wir brauchen Grenzen als Orte des Austausches und nicht als Abkapselung.

Glauben Sie, dass diese Unterscheidung an der Basis jemanden interessiert?

Die Frage, die die Basis wie die Spitze interessiert, heißt: „Was ist christlich?“ Das Evangelische ist ein Stück der Antwort. Und dieser Teil sollte auch alle interessieren, denen das Christentum am Herzen liegt.

Die Protestanten sind eine Minderheit in Europa und aufgeteilt in 93 Kirchen. Wäre es nicht sinnvoll, zuallererst nach dem Gemeinsamen zu suchen statt nach den regionalen Besonderheiten wie „Evangelisch in Württemberg“?

Die Frage nach dem Spezifikum einer Kirche oder eines Landes muss sich nicht gegen das Ganze richten. Man kann die Besonderheiten und das Ganze zugleich lieben. Was fehlt, ist eine einheitliche europäische Struktur. Dies könnte eine europäische evangelische Synode leisten. Ich setze mich mit anderen seit langem dafür ein und hoffe, dass dieser Traum in allernächster Zeit Wirklichkeit wird.

Was ist das, was Sie am Protestantismus in Europa am meisten begeistert?

Der Deutsche Evangelische Kirchentag. Ich habe mehrmals mitgemacht und meine: Wer verstehen will, was evangelisch ist, sieht es nirgends besser als dort. Ich denke dabei an die täglichen Bibelarbeiten mit Tausenden von Menschen, an die Buntheit der Glaubenserfahrungen, die unbegrenzte Freiheit, die große Beteiligung und den hohen Stellenwert des Dialogs zwischen Kirche und Gesellschaft.

Was macht Ihnen die meisten Sorgen?

Die innere Verunsicherung über die eigene Sache. Als ob evangelisch sein überholt, veraltet oder zwecklos wäre.

Wie ließe sich das ändern?

Das ist eine geistliche Krankheit. Da gibt es keine andere Lösung als das Gebet. Warum? Beten heißt Konzentration auf Gott. Er gibt uns Sicherheit und Halt. Wenn man nicht fest auf ihn baut, wackelt alles.

Wer in Italien evangelisch ist, gehört einer klaren Minderheit an.

Das ist für mich selbstverständlich. Wir Waldenser sind seit acht Jahrhunderten eine Minderheit. Auch Gott ist eine Minderheit unter den Göttern, Israel eine Minderheit unter den Völkern. Jesus hat nie über Mehrheit oder Minderheit gesprochen. Zwölf waren genug, um die Welt zu evangelisieren, 5.000 nicht zu viele, um ihnen Brot und Fisch zu geben. Entscheidend ist nicht, ob eine Kirche oder Konfession Minderheit oder Mehrheit ist, sondern wie sie eine Minderheit oder Mehrheit ist.

Was können evangelische Christen in Württemberg von Protestanten in der Diaspora lernen?

Dass es sich lohnt, evangelisch zu sein. Das ist das, was große, wichtige Kirchen von kleinen Kirchen in der Diaspora lernen können.

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